Russland schwimmt knapp vier Monate nach Kriegsbeginn im Geld. Dennoch fallen die Menüs in Restaurants kürzer aus. Medikamente fehlen zum Teil ganz, obwohl weder Medizin noch Lebensmittel von den Sanktionen der EU und der Vereinigten Staaten betroffen sind. Auch Anleger leiden.
In Europa wird die Energie knapp, Russland schwimmt im Geld – so lässt sich die Lage etwa vier Monaten Krieg in der Ukraine beschreiben. Aber der Kreml hat ein Problem: Er kann sich von seinen Öl- und Gasmilliarden nichts mehr kaufen, wie Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck schon Anfang des Monats im Bundestag erklärt hatte. Denn abgesehen von Erdöl, Erdgas und landwirtschaftlichen Produkten muss Russland fast alle anderen Waren importieren.
Robert Habeck beschreibt eine neue Realität, mit der sich allmählich auch die russische Bevölkerung arrangiert. Im britischen “Economist” beschreibt ein westlicher Englischlehrer seit Kriegsbeginn regelmäßig, wie sich die Lage im Land entwickelt – anonym, damit er für seine Erlebnisberichte nicht belangt wird. Bekannt ist lediglich, dass er an einer noblen Privatschule Kinder wohlhabender Familien unterrichtet und neuerdings auch, dass er bei Restaurantbesuchen nicht mehr wählerisch sein darf: “Die Menüs werden kürzer”, schreibt er in seinem letzten Bericht vom 8. Juni. “Einige importierte Zutaten oder Lebensmittel wie Süßkartoffeln fehlen ganz.”
Ein Umstand, der auch den Kindern in seiner Schule aufgefallen zu sein scheint. Wenn sie in der Cafeteria in der Schlange stehen, spielen sie demnach ein neues Spiel: Wie viele Tage wird der Joghurt wohl dieses Mal schon abgelaufen sein?
“Ich weiß nicht, ob ihm das Geld fehlt”
Europäische oder westliche Sanktionen sind für diesen Mangel nicht verantwortlich. Die EU hat Ausfuhrverbote für Spitzentechnologie verhängt. Europäische Unternehmen dürfen auch keine Bauteile mehr für die Öl- und Energiewirtschaft, für Flugzeuge oder Schiffe nach Russland exportieren. Auch Güter, die sowohl zivil als auch militärisch verwendet werden können, stehen auf dem Index. Aber Lebensmittel nicht. Und wie aus einer Auflistung der US-amerikanischen Yale-Universität hervorgeht, machen Unternehmen wie Hochland, Ehrmann, Ritter Sport und Storck weiterhin Geschäfte in Russland – wenn der russische Einzelhandel sich das noch leisten kann.
Denn die Transportkosten sind durch den Angriff auf die Ukraine und die anhaltenden Lockdowns in China gestiegen. Viele Lebensmittel kosten deswegen auch in der Herstellung mehr. Hamsterkäufe in den ersten Kriegstagen hätten die Situation nochmals verschärft, erklärt Alexander Libman von der Freien Universität Berlin. Es werde Produkte geben, die tatsächlich nicht mehr verfügbar sind, sagt der Politologe. In vielen Fällen erwartet er aber keinen akuten Mangel, sondern eher Teuerungen und massive Verschlechterung der Qualität.
Auch der Englischlehrer kann im “Economist” zwar beschreiben, was fehlt, aber nicht immer warum. Sein wohlhabender Chef zum Beispiel fahre seit einigen Wochen mit einer kaputten Windscheibe in seinem Mercedes herum, erklärt er. “Ich weiß nicht, ob ihm das Geld für eine neue fehlt oder er keine Ersatzscheibe bekommt.”
Huawei schließt Filialen
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Deutlich klarer gestaltet sich die Lage im Elektronikbereich. Russland darf keine Schlüsseltechnologien mehr aus Europa oder den USA einführen. Ein Mangel an Computern, Smartphones und Autos, aber auch Flugzeugen, Raketen, Kühlschränken und Waschmaschinen ist damit vorprogrammiert: Halbleiter finden sich inzwischen in so gut wie jedem modernen Gerät wieder und fast alle werden nach westlichen Bauplänen oder mit westlichen Maschinen hergestellt.
Selbst chinesische Technologie-Unternehmen wie der frühere Smartphone-Gigant Huawei sind deshalb vorsichtig und meiden den russischen Markt derzeit aus Angst vor Zweitsanktionen. Russische Apps hatte der Konzern schon vor vielen Wochen aus dem App-Store seiner Geräte geschmissen. Wie die russische Nachrichtenagentur RIA berichtet, hat Huawei Anfang Juni schließlich auch seine verbliebenen Filialen in Russland geschlossen. Viele Menschen werden ihren Job und ein sicheres Einkommen verlieren.
Medikamente knapp
Die russische Regierung versucht mit höheren Renten, höheren Mindestlöhnen und einem höheren Sold für Soldaten gegenzusteuern. Mehr Geld in der Tasche nutzt aber nichts, wenn wichtige Produkte wie Medikamente ausgehen.
Wie bei den Lebensmitteln liegt es nur teilweise an den Sanktionen. Westliche Pharmaunternehmen dürfen ihre Präparate nach wie vor an Russland verkaufen. Lebenswichtige Mittel wie Insulin seien aber wegen Misswirtschaft schon seit Jahren knapp, berichtet das Exilmedium Medusa. Durch den Krieg habe sich die Situation allerdings noch einmal verschlechtert:
Anfangs waren die Medikamentenschränke in Apotheken, Arztpraxen und Krankenhäusern wegen Hamsterkäufen leer. Aktuell verzögern sich viele Lieferungen wegen der schärferen Grenzkontrollen durch die unterschiedlichen Ein- und Ausfuhrverbote. Deshalb kommen auch wichtige Inhaltsstoffe, die für die Herstellung in Russland nötig sind, nicht rechtzeitig an.
In anderen, medizinisch nicht lebenswichtigen Bereichen müssen sich Russinnen und Russen ebenfalls nach Alternativen umschauen. In diesem Fall, weil die Pharmaindustrie lieber keine Geschäfte mehr mit ihnen macht. Im März entschloss sich der amerikanische Konzern Eli Lilly zum Beispiel laut Medusa dafür, das Potenzmittel Cialis nicht mehr nach Russland zu liefern. Konkurrent AbbVie traf wenig später die gleiche Entscheidung für Botox. Und der britische Pharmariese GSK liefert keine Nahrungsergänzungsmittel mehr.
Keine Dividende mehr
Das Leid der eher wohlhabenden Russinnen und Russen endet nicht im Beauty-Bereich. Vergangene Woche wurden die russischen Banken gebeten, vorerst keine Dividenden mehr an Aktionäre und keine Bonuszahlungen mehr an die Führungsetage auszuzahlen. Notenbankchefin Elwira Nabiullina will damit die finanzielle Stabilität des Landes gewährleisten, bis die wirtschaftliche Transformation geschafft ist.
Wer aber Aktien hält, hat in Russland derzeit eh ganz andere Probleme – jedenfalls, falls es sich um beliebte Wertpapiere westlicher Unternehmen handelt. Nach Angaben der russischen Exil-Nachrichtenseite The Bell hat die Zentralbank die Börse in St. Petersburg im Mai angewiesen, Aktien und Anleihen von Unternehmen, die keine Geschäfte mehr mit oder in Russland machen, vom Handel auszuschließen. Die Entscheidung betrifft 995 ausländische Unternehmen oder 14 Prozent aller russischen Portfolios, wie die St. Petersburger Börse mitteilte.
Die Besitzer erhalten somit keine Dividende mehr und dürfen ihre Wertpapiere nur noch nur mit einer Sondererlaubnis verkaufen – aber nur noch an andere Russen und mit einem kräftigen Rabatt, wie es heißt. Man habe die Entscheidung zum Schutz der Anleger getroffen, lautet nach Angaben von The Bell die Begründung der Zentralbank. Einen Vorschlag, wie sie die Anleger entschädigen will, gibt es bisher nicht.
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