Ob eine Sache richtig oder falsch ist, ermisst sich nicht daran, was andere darüber denken – auch dann nicht, wenn es sich um Zeitgenossen handelt, zu denen man aus Gründen der Vernunft, des Geschmacks oder des Anstands lieber ein paar Meter mehr Distanz wahrt. Weder ist die Ablehnung durch eine bestimmte Seite eine Garantie dafür, dass man selber im Recht liegt, noch der Beifall der richtigen falschen Leute sicheres Indiz dafür, dass man sich auf dem Holzweg befindet.
So ein Fall ist Julian Assange. Wer für ihn Partei ergreift und sich dadurch nicht nur mit Menschenrechtlern, Journalistenverbänden und anderen respektablen Personen auf einer Seite sieht, sondern zudem mit Stalinisten, Rechtsextremisten, Putin-Anhängern, Verschwörungstheoretikern und Spinnern aller Art, kann leicht in Erklärungsnot geraten. Doch Assange ist kein natürlicher Posterboy solch unsympathischer Zeitgenossen; erst die skrupellose und rachsüchtige, länderübergreifende Justizkampagne hat ihn zur Symbolfigur der antiwestlichen Internationalen werden lassen. Zum nützlichen Idioten, als den ihn die Putins dieser Welt einzusetzen versuchen.
Die geschmacklosen Instrumentalisierungsversuche, allen voran durch die russische Propaganda, dürfen nicht verdecken, was zusammen hier mit dem Schicksal dieses Menschen gleich in doppelter Weise verhandelt wird: die Glaubwürdigkeit der westlichen Welt. Zum einen durch die Kriegsverbrechen der USA im Irak und in Afghanistan, die er als Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks aufgedeckt hat. Zum anderen durch den Rachefeldzug der US-Behörden, bei dem erst die schwedischen Behörden mittels eines windigen Vergewaltigungsverfahrens die Rolle des willfährigen Helfers übernahmen und dann die britischen, die mit der Zustimmung der Johnson-Regierung die vorletzte Hürde für seine Auslieferung an die USA beseitigt haben.
Wie kein anderer im vergangenen Jahrzehnt verkörpert der Name Julian Assange die Antwort auf die Frage: Was sind sogenannte westliche Werte wie Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit und Folterverbot wert, wenn es ernst wird? Zieht man allein seinen Fall zur Grundlage, lautet die niederschmetternde Antwort: nicht viel.
Ja, Assange hat in seinen Enthüllungen mitunter jenes Verantwortungsbewusstsein vermissen lassen, das zum freien Gebrauch der Pressefreiheit gehört. Doch während die Verantwortlichen der aufgedeckten Kriegsverbrechen straffrei davonkamen, hat er für seine Fehler einen hohen Preis bezahlt: elf Jahre Unfreiheit. Elf. Davon zuletzt drei in britischer Haft, zu beschämend menschenunwürdigen Bedingungen, die der UN-Sonderberichterstatter, der Schweizer Nils Melzer, als Folter bezeichnet. Sollte Assanges Einspruch abgelehnt werden – und nichts spricht derzeit für eine andere Wendung –, droht ihm in den USA eine aberwitzige Haftstrafe von 175 Jahren.
Einen Preis bezahlen aber auch die USA und der Westen, tragen die Kriegsverbrechen im Irak – welche übrigens weniger im Kampf gegen den Massenmörder Saddam Hussein, aber umso mehr in den folgenden Jahren begangen wurden – wie der Umgang mit Assange Anteil daran, dass das westliche Modell viel von seiner einstigen Ausstrahlungskraft eingebüßt hat. Potentaten wie Wladimir Putin oder Tayyip Erdogan freuen sich auch deshalb weltweiter Beliebtheit, weil sie Normen wie Rechtsstaatlichkeit, Humanität und Pressefreiheit mit Verweis auf den Irak und Assange (sowie auf Srebrenica, Ruanda, Guantánamo usw.) als Scheinheiligkeit und Propagandalügen abtun können.
Universelle Werte
Dabei wäre es naiv und ahistorisch, das westliche Modell als Versprechen der Unfehlbarkeit staatlicher Gewalt zu verstehen. Aber es beinhaltet das Prinzip der Gewaltenteilung – und der Kontrolle durch die Öffentlichkeit: Kleine, manchmal auch große Verbrechen sollen nicht passieren, passieren aber. Doch sie werden geahndet, sobald sie auffliegen. Zumindest zeigen die Verantwortlichen ein bisschen Zerknirschung, versprechen wortreich Aufklärung und Konsequenzen – und verfolgen keine Journalisten, weil sie Missstände aufgedeckt haben.
Dass die USA, verschiedene Regierungen, die Justiz und andere nach so vielen Jahren unverändert auf Assanges Auslieferung beharren, spricht nur für den Wunsch nach Rache und Abschreckung. Das bedeutet, dass sie sich ein Recht reklamieren, das niemand besitzt: das Recht ungestraft Straftaten begehen zu dürfen. Eine bittere Ansage in Zeiten, in denen die Welt darum ringt, den russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine nicht tatenlos zusehen zu müssen.
Die Ukrainerinnen und Ukrainer wiederum verteidigen nicht nur ihr Land gegen den russischen Aggressor, sie verteidigen auch – der floskelhafte Gebrauch dieses Satzes macht ihn nicht unwahr – das westliche Gesellschaftsmodell, das Putin abgrundtief hasst. Der Westen könnte diese Chance nutzen, um verlorene Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, droht aber, diese Chance zu verpassen. Deutschland und Frankreich durch Empathiemangel und Zögern bei der notwendigen Militärhilfe, die USA und Großbritannien durch ihr Handeln im Fall Assange.
Doch man kann nicht glaubwürdig Kriegsverbrechen in der Ukraine verurteilen und ahnden, wenn man Verbrechen durch eigene Soldaten deckt und diejenigen verfolgt, die sie aufdecken – wie man auch nicht überzeugend Freiheit für den russischen Oppositionspolitiker Alexander Nawalny fordern kann, wenn man zugleich danach trachtet, Julian Assange für 175 Jahre wegzusperren. Wer nicht über Assange sprechen will, möge zu Nawalny schweigen – und umgekehrt. Das ist ja das Große an den westlichen Werten: dass sie keine westlichen, sondern universelle sind, also unabhängig davon gelten, um wen es geht. Und unabhängig davon, mit wem man dabei mitunter auf derselben Seite steht.