WELT: General Gerhartz, laut Angela Merkel gehört Israels Sicherheit zur deutschen Staatsräson. Klingt wie eine Einbahnstraße. Trägt denn auch Israel etwas zur deutschen Sicherheit bei?
Ingo Gerhartz: Als ich 2018 die Luftwaffe übernahm, galt meine erste Auslandsreise Israel, um General Norkin und seine Luftwaffe kennenzulernen. Wegen unserer schrecklichen Geschichte fühlte sich das für mich wie eine historische Verpflichtung an. Israel hat die einsatzfähigste Luftwaffe der Welt, die in vielen verschiedenen Szenarien operiert. Wir können daher viel von den Israelis lernen.
Amikam Norkin: Wir haben Kooperationen mit Luftwaffen rund um die Welt, aber keine ist wie die mit Deutschland. In den 70ern waren fast die Hälfte unserer Piloten Holocaust-Überlebende. Bevor wir vor vier Jahren das erste Mal an einer Übung mit unseren F-16s in Deutschland teilnahmen, habe ich Überlebende gefragt: Sollen wir das wirklich machen? Sie haben mich in der Entscheidung bestärkt. Wir werden die Vergangenheit niemals vergessen. Aber die Zukunft gestalten wir gemeinsam.
WELT: General Norkin, vielleicht beobachten Sie, wie sich Deutschlands Verhältnis zum Militär und zur Sicherheitspolitik verändert. Welchen Rat können Sie Ihren deutschen Freunden geben?
Norkin: Die Herausforderungen im Nahen Osten und in Europa sind sehr verschieden. Aber für die Luftwaffen gibt es viele Gemeinsamkeiten. Der Rat, den ich General Gerhartz geben kann, ist, wie man seine Luftmacht nutzen kann, um gleichzeitig Bedrohungen aber auch Chancen zu erkennen. Israels Lufthoheit im Nahen Osten ist eine Brücke für regionale Kooperation. Unsere Zusammenarbeit mit den Luftwaffen anderer Staaten der Region ist Teil der regionalen Stabilität. Unsere Regierungen können diese Brücke nutzen. Ich bin sicher, dass Deutschland seine Fähigkeiten ähnlich nutzen kann. Dafür muss Deutschland seine Fähigkeiten nicht aktiv einsetzen, auch Abschreckung kann seine Nachbarn schützen.
WELT: Dank Ihrer beider Initiative haben die Luftwaffen beider Länder in den vergangenen Jahren gemeinsam Manöver abgehalten. Für Ihr Engagement wurden Sie gerade mit der Ernst-Cramer-Medaille der Deutsch-Israelischen Gesellschaft ausgezeichnet. Waren die gemeinsamen Übungen vor allem ein politisches Signal? Oder wäre es denkbar, dass beide Luftwaffen wirklich einmal gemeinsam in Aktion treten?
Gerhartz: Die Verleihung der Medaille ist für mich eine große Ehre. Besonders hat mich gefreut, dass erstmalig zwei Militärs ausgezeichnet wurden. Wir als Streitkräfte können eben auch einen wichtigen Beitrag zur Völkerverständigung leisten. Ich bin zwar persönlich ausgezeichnet worden, aber sehe diese Auszeichnung stellvertretend für die Menschen in meiner Luftwaffe, die Teil dieser engen freundschaftlichen Kooperation sind. Wenn wir sagen, die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson, dann müssen dem auch Taten folgen. Das heißt, die beiden Luftwaffen müssen zusammen agieren können. Ob sie dann auch eingesetzt werden, ist eine politische Entscheidung.
Norkin: Israel hängt nicht von deutscher Unterstützung ab, wir können uns selbst verteidigen. Israel ist ein kleiner Staat. Von der östlichen bis zur westlichen Grenze sind es nur drei Flugminuten. Durch die Kooperation mit Deutschland bilden wir strategische Tiefe: kulturell, wirtschaftlich – und wir bilden Akzeptanz. Wenn die Deutschen hierherkommen, verstehen sie unsere schwierige geostrategische Lage.
WELT: Neben den militärischen Übungen haben Sie beide auch viele soziale Begegnungen zwischen Soldaten beider Länder organisiert. Wie hat das Kennenlernen ihre jeweiligen Soldaten verändert?
Norkin: Letztes Jahr lud General Gerhartz mehr als 60 junge israelische Offiziere ein. Sie besuchten Deutschland für eine Woche, lernten, wie die deutsche Luftwaffe trainiert, und wie ihre Ausbildung aussieht. Vor zwei Jahren flogen unsere Luftwaffen gemeinsam über Dachau. Und dann kam die deutsche Luftwaffe nach Israel und wir flogen zusammen über Jerusalem. Nächste Woche werden mehr als 40 Deutsche, Soldaten mit ihren Familien, bei uns in Israel zu Gast sein. Wir lernen voneinander beruflich, aber auch die jeweilige Geschichte und Kultur. In Israel wissen wir viel über den Holocaust, aber nicht, was heute in Deutschland passiert.
WELT: Im Deutschland von heute gibt es immer noch Antisemitismus. Wie gehen Sie bei den deutsch-israelischen Begegnungen mit diesem Thema um?
Gerhartz: Als Mensch und als Chef der deutschen Luftwaffe ist meine Botschaft eindeutig: Antisemitismus darf in Deutschland, darf in der Luftwaffe keinen Platz haben! Dazu ist es wichtig, dass unsere Soldatinnen und Soldaten die Kultur Israels und die jüdische Religion kennen und verstehen lernen. Und dafür müssen wir Menschen mit Menschen zusammenbringen, das war von Anfang an unsere gemeinsame Vision, die uns mit dem Wirken Ernst Cramers verbindet.
WELT: General Gerhartz, wie erklären Sie sich, dass die israelischen Streitkräfte mit weniger als der Hälfte des deutschen Budgets eine weitaus höhere Einsatzbereitschaft haben als die Bundeswehr?
Gerhartz: Man kann diese zwei Streitkräfte nicht vergleichen, aber wir können durchaus etwas lernen. Israel hat eine sehr effiziente Rüstungsindustrie. Wir dagegen haben komplizierte bürokratische Strukturen. Aber mit der Verdopplung der Einsatzbereitschaft unserer Eurofighter haben wir bewiesen, dass wir es eben auch können.
Norkin: Zwei Drittel der israelischen Soldaten sind Wehrpflichtige, belasten also kaum unser Budget. Mehr als die Hälfte meiner Piloten sind Reservisten. Man kann nicht Flugzeuge mit Flugzeugen vergleichen, sondern muss die gesellschaftlichen Strukturen beachten. Ein israelischer Reservist kann ein Lehrer sein oder ein Manager, aber er kommt jede Woche zur Übung. Ich glaube nicht, dass die deutsche Gesellschaft solch ein System akzeptieren würde.
„‚One size fits All‘ gilt bei der Raketenabwehr nicht“
WELT: Deutschland erwägt, das israelisch-amerikanische Luftabwehrsystem Arrow 3 anzuschaffen. Aber in der jüngsten Auseinandersetzung mit der Hamas hat sich Israels Luftabwehr als keineswegs perfekt erwiesen. Etliche Raketen drangen durch Schutzschirm. Kann Ihr System Deutschland wirklich gegen groß angelegte Angriffe aus Russland schützen?
Norkin: Bei diesem Konflikt haben wir nur das System Iron Dome eingesetzt, das vor Projektilen schützen soll, die aus kurzer Entfernung abgeschossen werden. In zehn Tagen des Konflikts feuerten die Hamas und andere palästinensische Gruppen etwa 4500 Raketen auf israelische Städte ab. Und wir haben 90 Prozent davon erwischt. Auf so kurze Distanz ist das ein hervorragendes Ergebnis. Bei Arrow 3 handelt es sich um das fortgeschrittenste Luftabwehrsystem der Welt. Es schützt vor ballistischen Raketen, die aus Tausenden Kilometern Entfernung abgeschossen werden. Weil die militärische Lage in unserer Region so ist, wie sie ist, sind unsere Systeme stets in der Praxis erprobt. Unsere gesamte operative Erfahrung fließt in ihre ständige Weiterentwicklung.
Gerhartz: Tatsächlich braucht man verschiedene Schutzschirme gegen Raketen mit unterschiedlichen Reichweiten. Der Grundsatz „One size fits All“ gilt bei der Raketenabwehr eben nicht. Gegen Angriffe mit Raketen großer Reichweite, die zum Teil außerhalb der Erdatmosphäre fliegen, haben wir aktuell keine Antwort. Darum habe ich der Politik dringend empfohlen, das Arrow-3-System zu betrachten. Es wird bereits verwendet und Israel sowie Amerika lassen uns an der Technologie teilhaben. Das System ermöglicht auch einen Schutz für unsere östlichen Bündnispartner gegen die Bedrohung durch solche Raketen.
WELT: Zum Schutz dieser Nachbarn fliegen Piloten der deutschen Luftwaffe derzeit Patrouille über Polen und Rumänien, sowie demnächst auch über dem Baltikum. Dabei kommen sie russischen Kampffliegern gefährlich nahe. Können Sie etwas von der „Deconfliction“ der Israelis lernen, der Abstimmung mit russischen Stellen, die versehentliche Kollisionen im Luftraum über Syrien vermeiden soll?
Gerhartz: Wir haben Deconfliction mit den russischen Luftstreitkräften bereits praktiziert, als wir im Rahmen des internationalen Anti-IS-Einsatzes über Syrien und dem Irak geflogen sind. Da gab es immer ein sogenanntes Rotes Telefon, was wir auch hier und da nutzen mussten. Als kürzlich russische Militärflugzeuge der Insel Rügen sehr nahekamen, sind Eurofighter der Luftwaffe aufgestiegen, um klar zu zeigen, wo die Grenzen sind. Hier ist hohe Professionalität unserer Piloten gefragt, sie dürfen sich nicht provozieren lassen und müssen besonnen handeln. Da habe ich vollstes Vertrauen in meine Piloten.
WELT: Welchen Rat würden Sie Deutschland für den Umgang mit Russland geben, General Norkin?
Norkin: Für uns gab es immer nur Feinde und Freunde, die Deutschen kennen sich hingegen damit aus, wenn man eine Mischung aus beidem in der Nachbarschaft hat. Übrigens machen wir gar keine Deconfliction. Wir koordinieren uns nicht mit den Russen. Wir treffen lediglich gewisse Sicherheitsmaßnahmen, etwa um zu vermeiden, dass wir versehentlich ein russisches Flugzeug abschießen wie die Türken 2015. Aber für unsere Sicherheitsmaßnahmen haben wir viel von den Deutschen und der Nato gelernt. Weil sie sich mit einem multikulturellen Umfeld auskennen.
WELT: Den Gedenkflug über Dachau beobachteten am Boden ehemalige KZ-Häftlinge. Wie kann der historische Hintergrund dieser Waffenbrüderschaft nachwachsenden Generation vermittelt werden, wenn mal keine Zeitzeugen mehr leben?
Gerhartz: Wenn Sie mich auf diesen Tag ansprechen, kommen die Emotionen wieder. Dass General Norkin mich damals einlud, neben ihm im Flugzeug zu sitzen, während wir über dem ehemaligen KZ Dachau geflogen sind, werde ich nie vergessen. Nachdem ich bei der Gedenkstunde die Worte „le-olam lo od“ gesagt habe, „nie wieder“ auf Hebräisch, kamen viele Menschen zu mir und sagten, wie wichtig sie das gefunden hätten. Wir dürfen unsere Geschichte nicht vergessen. Genau deswegen machen wir auch die Austauschprogramme und Familienbegegnungen. Gerade ist eine Gruppe von israelischen Unteroffizieren in Deutschland. Eingebettet in diesen Besuch haben wir das Hörsaalgebäude unserer Unteroffizierschule nach Karl Laabs benannt, einem Luftwaffen-Feldwebel der Wehrmacht, der mehr als 100 Juden das Leben rettete. Damit wollen wir erreichen, dass sich unsere jungen Soldatinnen und Soldaten mit dem Holocaust auseinandersetzen und das furchtbare Verbrechen der Shoa nicht vergessen wird.
Norkin: Vor ein paar Jahren gab es eine Zeremonie zum Holocaust-Gedenktag auf einer unserer Basen. Da hat ein israelischer Luftwaffenoberst gesprochen, schon über 80, der den Holocaust selbst überlebt hatte, als Kind in einem Erdloch versteckt, drei Jahre lang. Er konnte kaum glauben, dass im Publikum auch Soldaten der deutschen Luftwaffe saßen, Drohnenpiloten, die bei uns trainierten. Hinterher sagte er zu ihnen: „Es ist gut, dass ihr hier seid. Wir haben den Staat Israel errichtet und wir können ihn verteidigen. Aber eine Zukunft können wir nur gemeinsam aufbauen.“ Darum muss es gehen – auf der Grundlage des Erinnerns eine gemeinsame Zukunft errichten.