Preissteigerungen in fast allen Waren- und Dienstleistungskategorien haben die Inflation in Großbritannien im April auf neun Prozent getrieben, nach sieben Prozent im Vormonat. Zuletzt war ein Wert in dieser Höhe im März 1982 verzeichnet worden. Fast drei Viertel des Anstiegs der Preise sei durch den Anstieg der Energiepreise verursacht, erläuterte das Office for National Statistics (ONS).
Zum 1. April war die Deckelung der Energiekosten, die von der Regulierungsbehörde als Obergrenze der jährlichen Gas- und Stromkosten für Haushalte festgesetzt wird, um fast 700 Pfund (829 Euro) auf 1971 Pfund angehoben worden. Hinzu kommen höhere Preise für eine Vielzahl von Rohstoffen. Immer mehr Produzenten geben die Kostensprünge an die Verbraucher weiter, sagte Grant Fitzner, Chefvolkswirt des ONS. „Angetrieben hat das die Preise für Lebensmittel, Fahrzeuge und Metallprodukte, Maschinen und Anlagen.“
Preissteigerungen, wie sie seit Jahrzehnten nicht gesehen wurden, machen seit Monaten allen westlichen Industrienationen zu schaffen. Der Krieg in der Ukraine, Lieferschwierigkeiten wegen Lockdowns in China bei hoher Nachfrage seit der Covid-Pandemie, ungewöhnliche Trockenheit in wichtigen Agrarregionen gehören zu den Gründen. Unter den G-7-Staaten belegt Großbritannien mit dem aktuellen Wert aber den Spitzenplatz.
Haushalte sind von der Entwicklung unterschiedlich stark betroffen. Für die Gruppe der finanziell am schlechtesten gestellten legten die Preise um 10,9 Prozent zu, zeigt eine Untersuchung des Institute for Fiscal Studies (IFS). „Sie geben einen großen Teil ihres Budgets für Energie und Lebensmittel aus“, sagte IFS-Chef Paul Johnson. Für Vermögende belief sich der Preissprung dagegen auf 7,9 Prozent.
Weitere Zinserhöhung dürften eine der Antworten auf den deutlichen Preissprung sein, erwarten Beobachter, auch wenn Andrew Bailey, Gouverneur der Bank of England, gerade darauf hingewiesen hat, dass die Mehrzahl der Inflationsursachen in internationalen Entwicklungen liege.
Die britische Notenbank hat bereits viermal in Folge die Zinsen erhöht, aktuell liegen sie bei einem Prozent. Doch angesichts einer enttäuschenden Wirtschaftsentwicklung in den vergangenen Monaten ohne Wachstum mehren sich die Zweifel, wie beherzt die Notenbanker dabei vorgehen können.
„Anhaltend hohe Inflation und die prognostizierte leichte Rezession Ende 2022 bedeuten, dass die Bank of England weiterhin in heimtückischen Gewässern segeln muss, mit dem Risiko, eine Rezession möglicherweise zu verschärfen, wenn die Zinsen zu drastisch steigen“, sagte Urvish Patel, Ökonom beim National Institute of Economic and Social Research.
Unternehmen halten sich bei Investitionen zurück
Die Lage der britischen Wirtschaft und die Sorgen vor einer anhaltenden Inflation sei nun der wichtigste Aspekt, der Vorstände und Manager umtreibe, sagte Kitty Ussher, Chefvolkswirtin des Arbeitgeberverbandes Institute of Directors. Bei Investitionen würden sich Unternehmen zurückhalten, was zusätzliche Probleme für die Volkswirtschaft mit sich bringt.
Seit Wochen halten Forderungen aus der Wirtschaft, von Wohlfahrtsverbänden und von den Oppositionsparteien an, dass die Regierung mehr zur Unterstützung vor allem finanziell schlecht gestellter Haushalte tun müsse.
Finanzminister Rishi Sunak verweist dagegen immer wieder auf den Haushalt im Herbst, wenn auch klar sein wird, wie sich die Deckelung der Energiepreise weiter entwickelt. Doch es sei wichtig mögliche Maßnahmen rasch in Aussicht zu stellen, so Ussher, „um anzufangen, die Inflationserwartung wieder zu beschränken.“
Eine bisher geringere direkte Unterstützung der britischen Regierung für die Haushalte, um die hohen Energiekosten abzufedern, sei eine wichtige Erklärung, warum die Preissteigerung in der Eurozone niedriger liege, kommentierte Samuel Tombs, Volkswirt bei Pantheon Macroeconomics. Auf dem Kontinent blieb die Inflation im April mit 7,4 Prozent auf dem Niveau des Vormonats.
Ein deutlicherer Sprung bei Dienstleistungen lasse sich auf das Ende der Mehrwertsteuerreduzierung in der Gastronomie mit dem Auslaufen der Covid-Maßnahmen erklären. Doch auch verarbeitete Waren seien in Großbritannien teurer geworden als in der Eurozone.
„Es fällt schwer, den Schluss zu vermeiden, dass der Brexit teilweise für die relative Stärke der Wareninflation verantwortlich ist. In der Vergangenheit wären weniger teure Güter einfach über den Kanal nach Großbritannien gekommen; der deutliche Unterschied bei der Inflation der Güterpreise legt nahe, dass das nicht länger passiert.“
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